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Bremskraftverstärker - Leseprobe
Franz Doll
März/2006
Der Bremskraftverstärker
Doris steuert ihr kleines Auto, einen Ford Fiesta, gedankenversunken den letzten Berg hinauf zu ihrem Zuhause. Es ist Frühling und die untergehende Sonne strahlt von hinten kommend jenes Haus warm rot an, vor dem sie in wenigen Sekunden ihr Auto abstellen wird. Sie kommt von der Arbeit am anderen Ende der Stadt. Aber deshalb umzuziehen in die Nähe der Praxis, in der sie als Arzthelferin arbeitet? Das will sie nach wie vor nicht, denn diese Wohnung hier hat sie in ihr Herz geschlossen. Die Lage ist auch sehr gut – gehoben, wie man üblicherweise sagt, auch im wörtlichen Sinne, nämlich oben am Hang mit Blick nach Westen, der Abendsonne entgegen.
»Wenn ich meine Adresse nenne«, denkt sie etwas belustigt, . . .
. . .
Doris hatte sich vor 6 Jahren ums Haar verliebt und ihrem Leben eine andere Wendung gegeben. Aber nein, sie war wirklich verliebt bis über beide Ohren und sie hätte ums Haar diesen Mann aus seiner unglücklichen Ehe herausgeliebt. Dann kamen ihr Zweifel, ob sie diese Verantwortung tragen kann, seiner Frau gegenüber. »Und wenn ich mir dann selbst Vorwürfe mache, nachdem die ersten Liebesstürme nachgelassen haben?« Es drängte sich noch eine andere Variante in ihr zweifelndes Gemüt. »Und wenn dieser Mann mich nur benutzt, um aus seiner ungeliebten Ehe heraus zu kommen? Dann wird es sowieso nichts mit meiner Vorstellung von einer idealen Ehe. Dann ist es nur konsequent, dass ich meine starken Gefühle für diesen Mann verdränge oder durch meine Arbeit sublimiere«.
. . .
„Darf ich ihnen etwas bringen?“ Ruft es plötzlich vom Flur her. Die Vermieterin reißt sie aus ihren Gedanken. „Ja“, sagt Doris und öffnet ihr die Tür. „Wir haben zu viel Gemüse eingekauft und fahren morgen überraschend weg zu unseren Kindern. Da gebe ich lieber Ihnen den Broccoli, wenn sie ihn mögen, bevor er alt wird.“ – „Das ist nett, danke, den kann ich morgen gut verwenden, am Samstag habe ich ja Zeit zum Kochen.“ – „Dass sie immer so alleine sind, in diesem Alter – gäl, sie fühlen sich doch bestimmt einsam?“ »Ach Gott, kann die Gedanken lesen?« denkt Doris. Aber laut sagt sie „Nein, ich bin schon zufrieden damit, ich bin ja ganz freiwillig alleine.“ Die Vermieterin sagt nichts, aber merkt, dass sie ihrer Frage ausgewichen war. „Dann gute Nacht, schlafen Sie gut“, sagt sie nur. „Danke, gute Nacht“, wiederholt Doris mechanisch.
. . .
Dass sie geträumt hat, schiebt sich gerade in ihr Bewusstsein. »Festhalten«, denkt sie, »jetzt nur nicht unter die Dusche, sonst ist er weggespült. « Zuerst muss ein Kugelschreiber her und Papier. Sie setzt sich an den Tisch und schreibt los, spürt gar nicht mehr die müden Beine und die kalten Füße.
Sie schreibt:
Ich wate durch den Bach, gegen die Strömung, das Wasser ist eiskalt, aber das spüre ich gar nicht. Am Ufer steht mein Vater, er ruft mir zu, ich solle sofort rauskommen, sonst erkälte ich mich. Da sind aber Fische im Wasser, die rufen mir zu, ich solle ihnen folgen. Wir kommen an ein Wirtshaus, darin sitzen viele Fische um den Tisch. Die begrüßen mich und sie meinen, ich müsse sie doch kennen. Aber mir kommt nicht einer davon bekannt vor. Sie drängen mich, ich müsse mich doch erinnern. Mir wird angst und bange und ich will mich zurückziehen, aber ich weiß nicht wohin. Meine Angst wird immer größer, die Fische immer mehr. Da fasse ich ein Herz und schlage mit der Hand flach auf den Tisch, dass es nur so klatscht, denn der Tisch ist ganz nass vom Wasser der Fische. Da sind sie plötzlich alle verschwunden und ich stehe alleine da an einem Tisch am Waldspielplatz mit vielen spielenden Kindern rundum und es riecht nach gebratenem Fisch.
Jetzt bin ich ganz froh, dass ich nicht mehr alleine unter Fischen bin. Aber irgendwie fühle ich mich ausgeschlossen, wie in eine Seifenblase eingesperrt. Ich sehe die Kinder in allen Regenbogenfarben, aber die Kinder sehen mich nicht. Da will ich die Blase wegschieben und dabei wache ich auf.
Die kalten Füße holen Doris in ihre kleine Wohnung in dem schönen Wohnviertel zurück. . . .
Später so gegen zehn, nachdem sie ihre Wohnung und sich in Schuss gebracht hat, schwingt sie ihren Autoschlüssel, dann kratzt sie die Kurve aus ihrem Parkplatz und schnell geht es den Berg hinab. Heute muss sie wieder Getränke einkaufen, unten im Dorf, das geht nur schlecht ohne Auto.
Doch was ist das? Die Bremse – sie geht ja ganz schwer, fast gar nicht! »Was soll ich machen? Das ist das Ende«, schießt es ihr durch den Kopf. Sie reagiert völlig unbewusst und nimmt die Kurve in hohem Tempo, es bleibt ihr ja nichts anderes übrig. Sie steuert in die Seitenstraße, die wieder bergauf führt, so dass es ein leichtes ist, das Auto zum Stehen zu bringen.
»Ach Gott, das war knapp«. Sie ist ganz nass vor Angstschweiß. Vor allem ihre Handfläche, mit der sie die Handbremse wie einen Rettungsring umklammert, ist kalt vor Schweiß.
Ein Mann mit einem Fahrrad kommt auf sie zu.
. . .
„Wenn die Bremsleitung nicht leck ist, und das würde man schnell sehen können an einem Fleck auf dem Boden, dann kann es nur der Bremskraftverstärker sein.“
»Ein Bremskraftverstärker? So was, ich dachte, ich hätte das nicht nötig, bin selber stark«, denkt sie. „Ein Bremskraftverstärker ist …“ – „Sie brauchen das nicht auszuführen“, unterbricht sie ihn, „mich interessiert nur, wie das wieder in Ordnung kommt.“ Doris ist selbst überrascht über ihre forsche Reaktion. »Eigentlich könnte ich ja ganz froh sein, dass er mir helfen will, ohne wirklich aufdringlich zu sein«. Und sie spürt, wie es ihr ganz warm wird, sehr wohltuend, nach diesem kalten Angstschweiß. »Und irgend etwas Besonderes strahlt er aus, wie angenehm«, denkt sie.
. . .
Ihre Gefühle jedoch gehen nicht mit ihr, sie verharrten an Ort und Stelle. Plötzlich spürte sie, dass sie ihr nacheilen, nicht alleine, sie kommen zusammen mit dem Fahrrad und darauf sitzend ein von Erkenntnis strahlender Mann.
Sie bleibt abrupt stehen und dreht sich um, weil die Fahrradklingel eine äußerst auffordernde Botschaft aussendet, die kein Ausweichen zulässt.
„Bist Du Doris?“, prescht die Frage wie ein Sturzbach aus seinem neugierigen Mund hervor. »Der kennt mich? Das gibt’s doch nicht!« Sie glaubt, den Boden unter den Füßen beben zu spüren, dabei schickt sich nur ein Schwall Energie an, sie vom Boden her zu durchströmen, bis in die Haarwurzeln und noch weiter. Ihr Körper weiß schon alles, sie noch nicht, wahrscheinlich, weil es so unglaublich ist.
. . .
Er nimmt sie an den Händen. „Ich glaube“, flüstert sie, „ich weiß jetzt, warum der Bremskraftverstärker kaputt ging: ich bin mein Leben lang auf der Bremse gestanden.“ Er schaut sie zärtlich an.
Im nächstgelegenen Straßencafe, während sie auf den Kaffee warten, fragt sie ihn, in welchem Tierkreiszeichen er geboren ist. „In den Fischen“, sagt er. Sie zuckt zusammen. „Was ist denn?“ fragt er verwundert. „Nichts“, sagt sie, „wirklich nichts – oder doch, nämlich eine weitere Erkenntnis.“
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